Die Entscheidung das erste Mal den Jakobswegs oder einen anderen Pilgerweg zu begehen, wird aus unterschiedlichen Gründen getroffen. Wer nicht losgeht um Ruhe und Entschleunigung zu finden, wird das doch finden - ein Bericht von Alma Becker.
Ich erinnere mich noch gut, als ich vor fünf Jahren mich zum erst Mal dazu entschieden habe, den Jakobsweg zu gehen. Ich war damals 24 Jahre alt und Erasmus-Studentin in Madrid. Es stand nicht auf meiner Bucket-List, doch unterschiedliche Freundinnen erzählten mir von diesem Pilgerweg im Norden Spaniens. Da ich besonders neugierig auf die Städte und Landschaften war und ehrlicher Weise auch schon genug hatte vom partyreichen und turbulenten Leben in Madrid, entschied ich mich, meinen Rucksack zu packen und mit dem Bus nach San Sebastián zu fahren, wo ich meine erste Pilgerwanderung startete und nicht wie geplant, die restliche Zeit meines Aufenthaltes in Ibiza zu verbringen. Da ich noch bis kurz vor meiner Abreise Prüfungen hatte, beschränkten sich meine Vorbereitungen für den Jakobsweg darauf, „irgendwie“ den Rucksack zu packen und einen Pilgerpass zu besorgen.
In San Sebastián angekommen musste ich schnell feststellen, dass es mehr Herausforderungen in sich birgt, einige Tage, ja sogar Wochen ein Land zu Fuß zu erkunden, als andere Reisen. Das gemütliche Shopping konnte ich mir aufgrund der Umstände, ich dürfte jedes Gramm die nächsten Wochen mit mir mitschleppen, sparen. Ich weiß noch, dass mir dieser Verzicht damals, wie eine schlimme Tortur vorkam, da es dort etwas gab, dass ich zum damaligen Zeitpunkt unbedingt haben wollte. Die ersten Tage am Jakobsweg lehrten mich, dass dies nur ein kleiner Vorgeschmack für all die Herausforderungen, die dieser Weg bereit hält, war. Körperliche Schmerzen verbunden mit Blasen an den Füßen quälten mich und immer wieder stiegen in mir Ängste auf - alleine im Wald irgendwo im nirgendwo im Norden Spaniens: Was wäre, wenn mir etwas passiert und mich niemand findet? Was wäre, wenn mich einer dieser vielen streunenden Hunde anfällt? Und dann wurde auch noch meine körperliche Verfassung zusehends schlechter und das Ziel Santiago rückte immer weiter weg; meine größte Angst war, nicht anzukommen.
Nach vier Tagen auf dem Weg entschied ich mich mein Hab und Gut wirklich nur auf das Nötigste zu reduzieren - der Rucksack wurde leichter, die Schmerzen weniger und auch die Ängste schwanden durch eine große Portion Gottvertrauen, die mir der Weg zurück gab. Durch das Abwerfen von Ballast und den Verzicht auf viele Dinge, die sonst meinen Alltag bestimmen (und damit meine ich auch so Kleinigkeiten, wie das Auftragen von Make-Up) wurde mein Leben entschleunigt und ich wurde wieder offen für die kleinen Zeichen und Wunder, die das Leben bereit hält. Ruhig und offen zu sein, das kann im Alltag helfen. Diese Erfahrung wollte ich vom Jakobsweg mit nach Wien nehmen. Hilfreich waren dabei die Überlegungen von Romano Guardini.
Der Theologe Romano Guardini machte im 20.Jahrhundert in seinem Vortrag über „Der unvollständige Mensch“ den Vorschlag, einmal im Jahr „geistliche Übung“ zu halten. Was er darunter versteht, beschrieb er mit folgenden Worten:
„Damit wäre nichts kirchlich Definiertes gemeint, sondern etwas, das jeden angeht. Eine Gelegenheit, zu hören und zu bedenken, wann ein Mensch innerlich in Ordnung ist und wann verwirrt; welche Anlagen es in ihm gibt, welche davon entwickelt sind und welche verkümmert. Auch wäre Gelegenheit, zu lernen, wie man ruhig wird und sich entspannt; wie man sich sammelt, offen und aufmerksam wird.“
Sowohl am Jakobsweg, als auch in einer Phase der Krise ist es für viele möglich eine Zeit der Entschleunigung zu erfahren. Wenn wir diese Zeit des Verzichts und der Einschränkungen nicht als Belastung, sondern als Chance wahrnehmen, in sich zu gehen und aufmerksam zu beobachten, was in einem selbst gerade wichtig und richtig ist. So ist es uns vielleicht auch wieder mehr möglich einen liebevollen, offenen und aufmerksamen Umgang mit unserem Nächsten zu pflegen.
Auf meinem ersten Jakobsweg war die „Zeit der Entschleunigung“ nicht unbedingt das, was ich gesucht habe. Aber wie heißt es so schön: der Weg gibt dir nicht das, was du glaubst, dass du brauchst, sondern das, was du wirklich brauchst! Und vielleicht kann jeder von uns trotz dramatischer und trauriger Nachrichten aus der ganzen Welt, in seinem eigenen „kleinen“ Leben kleine Zeichen und Wunder des Zusammenhalts und der oft so gut verdeckten Liebe in der Welt entdecken.